Nur eine gut ausgerüstete Milizarmee ist ein Garant für die Sicherheit unseres Landes

Nur eine gut ausgerüstete Milizarmee ist ein Garant für die Sicherheit unseres Landes

Mut zur Kursänderung – schweizerische Sicherheitspolitik am Wendepunkt

von Thomas Kaiser

Am 22. September stimmt die Schweizer Bevölkerung über die allgemeine Wehrpflicht ab und damit darüber, ob die Milizarmee erhalten bleiben oder ob sie über den Schritt zur Freiwilligenarmee zu einer Berufsarmee umfunktioniert werden soll.
Diese Initiative gehört zu einer Reihe von politischen Vorstössen, die seit nunmehr 20 Jahren auf einen Abbau der Verteidigungsfähigkeit und letztlich auf einen Abbau der Souveränität unseres Landes hinarbeiten.
Mit dem Argument der Sicherheitsdividende als «Gewinnausschüttung» nach dem Ende des Kalten Krieges köderte man die Bürgerinnen und Bürger in der Schweiz, sich von der Wehrhaftigkeit zu verabschieden, einer sukzessiven Verkleinerung der Armee zuzustimmen und sich von den Phantasten eines immer friedlichen Europas leiten zu lassen. Die Schweiz, so die Argumentation, sei nur noch «umgeben von Freunden» und daher bestehe keine Gefährdung mehr. Eigentlich schöne Aussichten …
Wahrlich, die Realität ist eine andere, und was unser Land seit mehreren Jahren gewärtigen muss, ist alles andere als friedliches Verhalten der Nachbarn. Kein Land Europas wird momentan so attackiert wie die Schweiz. Es herrscht ein Wirtschafts- und Finanzkrieg, und die Schweiz ist zur Zielscheibe bankrotter Industriestaaten geworden. Die poli­tische Stabilität, die gesunde Wirtschaft, das geordnete Finanzwesen sowie eine funktionierende direkte Demokratie stören die auf Machtpolitik und Zentralismus ausgerichteten Nachbarstaaten, die sich in der EU assoziiert haben, einem supranationalen Machtgebilde, das jeder Demokratie Hohn spricht. Wer diese Anzeichen nicht sehen will, hat entweder mit Demokratie nichts am Hut, spekuliert auf einen Posten in Brüssel, ist selbst der Macht verfallen oder einfach nur naiv. Wer die Realität verstehen will, dem sei das Buch «Mut zur Kursänderung – Schweizerische Sicherheitspolitik am Wendepunkt» der Gruppe Giardino, erschienen im Verlag Eikos,* aufs wärmste empfohlen. Dieses Gemeinschaftswerk mehrerer ehemaliger hochrangiger Offiziere der Schweizer Armee zeigt die ungeschminkte sicherheitspolitische Realität auf und macht deutlich, in welchem Zustand unsere Armee sich befindet, die mit unsäglichen Reformen in einen sicherheitstechnisch äusserst bedenklichen Zustand geführt worden ist. Die verschiedenen Autoren, die in diesem Buch zu Wort kommen, zeichnen ein klares Bild von der «Bedrohungslage» und der bisher ungenügenden militärischen Antwort darauf.

Die Armee wird zu Tode reformiert

Die Ausgangslage ist eindeutig: Über mehrere Reformschritte hat man die Armee sowohl personell als auch materiell dermassen zusammengestrichen, dass die Autoren darin eine «klare Verletzung des Verfassungsauftrags» sehen, der an oberster Stelle die Landesverteidigung vorsieht. Hier setzen die Autoren berechtigterweise an und zeigen in aller Deutlichkeit auf, welche Konsequenzen diese Politik haben wird.
Wer das Kapitel von Hermann Suter, promoviertem Historiker und ehemaligem Oberstleutnant, «350 Jahre Militärgeschichte und nichts gelernt?», aufschlägt und darin liest, wird staunen, wie sich die Geschichte zum einen wiederholt und zum anderen doch jede Epoche ihre eigenen Besonderheiten und Eigenheiten hat. Eines wird jedoch klar und deutlich. Es sind immer Menschen, die aus kurzsichtigen Eigeninteressen oder persönlichen Insuffizienzen Fehlentscheide treffen, die auf Land und Leute verheerende Auswirkungen haben. In mehreren Fällen führte das zu militär-strategischen und rüstungspolitischen Fehlgriffen mit schrecklichen Konsequenzen. Bereits während des Deutsch-Französischen Krieges 1870/71 war die Schweiz zuwenig gerüstet, um eine Ausweitung des Krieges auf ihr Territorium zu verhindern. Der damals eingesetzte General Herzog machte den Bundesrat auf die ungenügende Wehrbereitschaft aufmerksam, jedoch ohne grossen Erfolg, bis er einen entlarvenden Bericht über den Zustand der Armee verfasste. «In seinem Bericht über die Grenzbesetzung 1870/71 deckte Herzog mit unbarmherziger Offenheit die Schwächen und Ungenügen der Armee auf.» (S. 31) Erst Jahre später reagierte man darauf und begann, die Armee der effektiven Bedrohungslage anzupassen.

… «wo Männlichkeit jeden Tag schwindet» …

Nachdem 1905 zum ersten Mal in der modernen Geschichte ein asiatisches Land eine europäische Grossmacht besiegt hatte, nämlich Japan das Russische Reich, hinterliess das einen tiefen Eindruck. Ein Zitat aus der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitung von damals bringt es auf den Punkt: «Seien wir jederzeit eingedenk, dass nur eine langjährige soldatische Erziehung den Sieg an Japans Fahnen zu heften vermochte und dass wir Schweizer, sofern wir gewillt sind, unsere Existenz zu behaupten, mit aller Energie gegen die Symptome einer kränkelnden Volksseele einschreiten müssen, wo Männlichkeit jeden Tag schwindet und wo das Geld den Begriff des Vaterlands zu ersetzen droht.» (S. 33) Man kann es drehen und wenden, wie man will, aber über 100 Jahre später stehen wir wohl wieder an der gleichen Stelle. Wir haben eine Armee, die, wenn der Abbau so weitergeht, nicht in der Lage sein wird, unsere Grosseltern, Frauen und Kinder vor möglichen Angriffen von aussen zu schützen, und wir leben in einer Gesellschaft, die sich lieber mit Börsengewinnen, Freizeit, Spass und Vergnügen beschäftigt, als die anstehenden Aufgaben, auch die militärischen, souverän und auf unsere Art in Angriff zu nehmen.
Wer heute der Meinung ist, die Welt sei seit 1991, dem Zerfall der Sowjetunion und der Auflösung des Warschauer Paktes, friedlicher geworden, verschliesst die Augen vor der Realität. Was seit 1945 allen klar war, nämlich «nie wieder Krieg», auch auf europäischem Territorium und schon gar nicht «von deutschem Boden aus», wurde wenige Jahre nach der Öffnung des Eisernen Vorhangs bittere Realität. Der Zerfall der Bundesrepublik Jugoslawien und die Rolle des Westens darin zeigen in aller Deutlichkeit auf, wer hier den Wunsch nach «ewigem Frieden» innert kürzester Zeit mit einer «neuen Dimension des Krieges» endgültig zerstört hat. Die Theorie, dass «Demokratien keine Kriege führen», wird spätestens durch den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der Nato gegen Rest-Jugoslawien ad absurdum geführt. Dass rundherum alle Nachbarländer mit Ausnahme Österreichs daran beteiligt waren, hinterlässt ein unangenehmes Gefühl, vor allem wenn man heute sieht, dass viele dieser Länder im Verbund mit der EU enormen Druck auf die Schweiz ausüben und auf ihrem demokratisch legitimierten Rechtssystem herumhacken. Das im Parlament verhandelte dringliche Bundesgesetz zum Steuerstreit mit den USA ist Ausdruck davon, wie Grossmächte mit kleinen Staaten umgehen. Wenn kein innerer Abwehrwille mehr vorhanden ist und die Erhaltung der staatlichen Souveränität nicht mehr zur politischen Grundeinstellung gehört, wird der Staat bald einmal zu einer Bananenrepublik, die sämtlichen Respekt im internationalen Austausch verloren hat.

«Unveränderte Machtblöcke»

Respekt hat sich die Schweiz, so alt Divisionär Franz Betschon und Hauptautor des hier besprochenen Buches, dann verschafft, wenn sie sich gegen Angriffe von aussen zur Wehr setzen kann: verbal oder, wenn die Diplomatie versagt, auch militärisch. «Gegen Erpressungen irgendwelcher Art ist der militärische Arm der Sicherheitspolitik immer noch unerlässlich, wenn es um das nackte Überleben geht.» (S. 55) Franz Betschon zeigt im Kapitel «Unveränderte Machtblöcke» auf, dass wir trotz der Beendigung des Kalten Krieges, die zunächst eine deutliche Machtverschiebung in Richtung USA zur Folge hatte, heute wieder die zwei bekannten und mit China und dem asiatischen Raum sogar einen dritten Machtblock bekommen haben. Die Entwicklung geht von einer monopolaren zu einer multi­polaren Welt, wobei sich die alten Machtblöcke in etwas veränderter Konstellation gegenüberstehen. «Mit dem Zerfall der Sowjetunion und damit dem Ende des Kalten Krieges hätte tatsächlich bis etwa 1993 die Chance bestanden, Russland in die Nato zu integrieren, und damit die Chance, neue stabile Verhältnisse zu schaffen. Aber die USA waren übermütig geworden. Russland wurde über den Tisch gezogen. Die amerikanischen Führer hatten ein anderes Ziel vor Augen, als Russland als gleichberechtigten Partner anzuerkennen.» (S. 52)
Wer das Buch von Zbigniew Brzezinski «The grand Chessboard» (auf deutsch: «Die einzige Weltmacht») gelesen hat, weiss, dass der Autor als ehemaliger Sicherheitsberater der US-Regierung die Zukunft der USA als Weltmacht nur mit einer Vorherrschaft auf dem eurasischen Kontinent sieht und damit den direkten Einflussbereich Russlands als eine legitime Begehrlichkeit der USA definiert. Dabei geht es, wie soll es auch anders sein, um die Ausbeutung der Bodenschätze. Nach Brzezinskis Ansicht können (und müssen) die USA Weltmacht bleiben, wenn sie den eurasischen Kontinent beherrschen.

Russland schützt Völkerrecht

Die hier erwähnte Integration Russ­lands in die Nato mag eine Möglichkeit gewesen sein. Eine weitere wäre auch die Auflösung der Nato gewesen. Nach dem Zusammenbruch des Warschauer Paktes war sie ohne Notwendigkeit und Legitimation, denn sie war 1949 gegründet worden, um kommunistische Übergriffe auf ihre Mitgliedstaaten zu verhindern. Wahrscheinlich wären Kriege wie der Kosovo-Krieg, der Afghanistan-Krieg und letztlich auch der Libyen-Krieg in dieser Art nicht durchführbar gewesen. Damals konnte das innenpolitisch geschwächte Russland den hochgerüsteten USA nichts entgegensetzen. Heute ist die Ausgangslage eine andere. Das Wiedererstarken Russlands lässt sich deutlich im Falle Syriens erkennen. Das Veto im Uno-Sicherheitsrat hat verhindert, dass die Westmächte sich Syrien bis heute unter den Nagel haben reissen können. Russland lässt nach den Erfahrungen in Libyen einen erneuten Bruch des Völkerrechts nicht mehr zu. Dass Russland heute diese Rolle einnimmt, ist beruhigend. Damit ist der US-amerikanischen Willkürherrschaft vorerst ein Riegel geschoben, und die übrigen Staaten sind auf das internationale Recht verpflichtet.
In der aktuellen Lage der ständigen Angriffe auf die Schweiz, gerade aus dem westlichen Lager, wäre es für unser Land erwägenswert, enger mit Russland zusammenzuarbeiten, besonders auch im militärischen Bereich. Ein Vorschlag, den der russische Präsident Dimitri Medwedew bei seinem Besuch in der Schweiz im Jahre 2009 bereits gemacht hat. (vgl. Zeit-Fragen, Nr. 38, 2009) Das ist besser, als sich weiterhin den USA und ihren willfährigen Vasallen in der Nato anzuschliessen.
Die nach wie vor bestehenden Spannungen zwischen den Grossmächten haben auch Auswirkungen auf die Schweiz, vor allem weil unser Land immer eine gewisse Unabhängigkeit bewahrt hat, die aber zunehmend, vor allem von den ehemaligen befreundeten Staaten des westlichen Lagers, angegriffen und verletzt wird. Darauf ist unser Staat sehr schlecht vorbereitet. Franz Betschon kommt denn auch zu dem Schluss: «Der Zerfall des internationalen Rechtssystems, der Zerfall der Güte unserer Politik und der Zerfall der schweizerisch-militärischen Sicherheitskomponente ermöglichen Begehrlichkeiten, sich an unseren Ressourcen zu bedienen. Militärisch ist unser Land zurzeit nicht mehr in der Lage, seine völkerrechtliche Pflicht zur Wahrung des Gewaltmonopols des Staates zu garantieren. Der Kampf ums Eingemachte ist voll entbrannt.» (S. 61) Das ist eine Einschätzung, die eigentlich einer klaren Kehrtwende in der Politik bedarf.

«Schweiz im Schraubstock»

In weiteren Kapiteln des Buches, die von unterschiedlichen Autoren stammen, wird anschaulich und ungeschminkt der Kampf um die globale Vorherrschaft dargelegt. Zwar hatten wir Anfang der 90er Jahre das Ende des ersten Kalten Krieges, doch sei «die Welt unvermittelt in einen zweiten Kalten Krieg geraten.» (S. 63) Wer das Weltgeschehen aufmerksam beobachtet, kann dieser Einschätzung kaum widerspechen. Die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise haben das Machtgebaren der westlichen Industrienationen verstärkt. Die Grossmacht USA, die alle drei Monate vor dem Staatsbankrott steht, hat in vielen Bereichen ihre Vormachtsstellung verloren, vor allem durch den rasanten Aufstieg Asiens und dem daraus resultierenden Selbstbewusstsein der asiatischen Staaten. Was früher aus den ehemaligen Vasallenstaaten herausgepresst wurde, holt man sich nun bei den reichen Staaten des Westens. Hier ist die Schweiz ein dankbares Opfer, weil man im Land selbst kaum mit der Boshaftigkeit eigentlich befreundeter Staaten gerechnet hat. So schreibt René Zeller im Leitartikel der «Neuen Zürcher Zeitung» vom 22./23. Juni mit dem Titel «Schweiz im Schraubstock» trefflich: «Es ist in der Tat ungemütlich, von Freunden umzingelt zu sein, die Macht vor Recht setzen, die lieber drohen als verhandeln. Es ist, als stecke der Finanzplatz Schweiz in einem Schraubstock.»
In dieser heiklen und «ungemütlichen» Lage wird neben der Führungsschwäche der Schweizer Magistraten im Bundesrat das über nahezu zwei Jahrzehnte angerichtete Desaster im Schweizer Verteidigungsdepartement sichtbar. Und hier nehmen die Autoren kein Blatt vor den Mund. Wer selbst Militärdienst geleistet hat, weiss, wovon die Militärspezialisten sprechen. Die hervorragende strategische und politische Analyse kontrastiert im besonderen das Desaster unserer Armee, die einst der Stolz unserer Nation war, weil sie bei aller Fehlplanung so viel Entschlossenheit gezeigt hat, dass wir weder in den Ersten noch in den Zweiten Weltkrieg hineingezogen wurden.

Verluderung des internationalen Rechts

Heute scheinen die Fronten weniger eindeutig zu sein, als sie es noch während des Zweiten Weltkriegs und des Kalten Kriegs gewesen sind. Dennoch zeigt die geostrategische Analyse, dass die Welt dadurch keineswegs sicherer geworden ist und dass eine militärische Konfrontation zwischen einzelnen Staaten, auch wenn sie als «befreundet» gelten, grundsätzlich möglich wäre. Niemand hätte erwartet, dass Jugoslawien innert 10 Jahren völlig auseinanderbricht und die Völker, die über Jahrzehnte miteinander verbunden waren, nur noch mit Hass und Gewalt aufeinander reagieren. Zehn Jahre ist eine enorm kurze Zeit. Eine Armee in sogenannten Friedenszeiten zu verkleinern, um im Ernstfall rechtzeitig mit der «Aufwuchsphase» zu reagieren und die Armee zu verstärken, muss nach aller Erfahrung ins Reich der Phantasie verbannt werden. Nach Massgabe der «Experten», die die Armeereform XXI auf dem Gewissen haben, sprach man damals davon, dass man es 10 Jahre im voraus und damit rechtzeitig merke, wenn sich eine konkrete Bedrohungslage zusammenbraue. «Die Militärgeschichte der Schweiz hat seit der Gründung des Bundesstaates im Jahre 1848 keinen massiveren Zerstörungsprozess gegenüber der Landesverteidigung gesehen als jenen der vergangenen zwanzig Jahre. Die verantwortlichen Poli­tiker – die Landesregierung und das Gros der eidgenössischen Räte – begründen ihr Verhalten mit dem Hinweis, dass das Szenario «Krieg» in weite Ferne gerückt sei und im Falle eines Falles genügend Zeit bestünde, die Defizite innert nützlicher «Aufwuchs-Frist» aufheben zu können. Hier ist der Wunsch Vater des Gedankens» (S. 117). Im Falle Jugoslawiens hätte das bedeutet, dass man bereits Anfang der 80er Jahre des letzten Jahrhunderts hätte merken müssen, was sich 10 Jahre später im Land abspielen würde. Zu diesem Zeitpunkt war noch keine Rede von einem schnellen Ende der ­Sowjetunion. Für die Jugoslawen geschah dies alles sozusagen über Nacht. Dass am Ende die Nato ohne Uno-Mandat militärisch angegriffen hat und damit das internationale Recht gebrochen wurde, zeigt, wieweit sich der Westen von international geltenden Rechtsnormen entfernt hat und wie sehr internationale Mechanismen zur Verhinderung eines Krieges ausser Kraft gesetzt wurden.

«Kosovo-Krieg als die Wasserscheide»

Bereits im Herbst 1999, also ein halbes Jahr nach dem Kosovo-Krieg, warnte der ehemalige US-Aussenminister und Sicherheitsberater Henry Kissinger, sicher keine Taube, in einem Artikel in der Welt am Sonntag vom 15. September 1999 davor, dass die Selbstherrlichkeit der Nato im Krieg gegen Serbien zu einem Bruch des Völkerrechts geführt hat: «Die Nato-Staatschefs haben recht, wenn sie den Kosovo-Krieg als die Wasserscheide ansehen. Das Bündnis hat seine historische Selbstdefinition einer strengen defensiven Koalition aufgegeben und darauf bestanden, die Provinz eines Staates zu besetzen, mit dem es sich nicht im Kriegszustand befand. Und es verstärkte diesen beispiellosen Vorgang, indem es die Forderung anschloss, dass Nato-Truppen das Recht haben müssten, sich in ganz Jugoslawien ungehindert zu bewegen. Ein Anliegen, das selbst von einer gemässigten serbischen Führung zurückgewiesen worden wäre.
Dieser abrupte Abschied vom Konzept der nationalen Souveränität, verbunden mit einer streitsüchtigen Diplomatie markierte einen neuen aussenpolitischen Stil. Dieser ist gekennzeichnet von innenpolitischen Kalkulationen und der Beschwörung universeller moralischer Slogans.»
Franz Betschon weist genau auf diesen Zustand der Rechtsverluderung hin: «Seit vielen Jahren, seit dem Ende des ersten Kalten Krieges jedoch beschleunigt, wird das internationale Recht immer stärker ausgehöhlt. Das Recht auf Präventivkriege, das Faustrecht also, hat sich schleichend zur Maxime gemacht.» (S. 84) Bei dieser offensichtlichen Missachtung des internationalen Rechtssystems ist es dringend geboten, sich auf alle möglichen kriegerischen Szenarien einzustellen. Genau das fordern die Autoren dieser Publikation.
Dass der heutige Kanzlerkandidat der deutschen SP einem befreundeten Land, nämlich der Schweiz, mit der «Kavallerie» droht, mag für die einen eine verbale Entgleisung eines ungehobelten Machtpolitikers deutscher Provenienz sein, in Tat und Wahrheit zeigt es aber die Auswüchse der Machtarroganz. Zuerst sind es immer nur Worte … Hatten wir das nicht schon einmal? Gerade der Fall Deutschland zeigt, mit welcher Überheblichkeit hier ein grosser Staat sich anmasst, unter Verletzung aller diplomatischen Gepflogenheiten dem kleineren zu diktieren, was er zu tun hat. Um eine richtige Einschätzung der Realität zu erhalten, darf man sich nichts vormachen. Wir können es nahezu jeden Tag in den Tageszeitungen lesen.
«Die Art, wie mit der Schweiz innerhalb des westlichen Lagers umgesprungen wird, wie sie gedemütigt und erpresst wird, sucht in der Geschichte ihresgleichen. Die Schweiz ist einer der wichtigsten Handelspartner der EU, vor allem von Deutschland, und dennoch wird sie respektlos selbst von deutschen Regionalpolitikern zurechtgewiesen. Es ist nicht anzunehmen, dass sich dieselben Politiker getrauen würden, etwa die Niederlande, Belgien oder auch Frankreich und Italien so zu behandeln.» (S. 157) Der Umgang mit Griechenland gibt vielleicht einen Vorgeschmack, was ein Staat im Rahmen der EU und ausserhalb zu gewärtigen hat.
In solch einer angespannten Situation, in der «gute Freunde» eine (noch) verbale Drohkulisse aufbauen, ist die Frage nach der eigenen Verteidigungsfähigkeit die logische Folge. Die Bedrohungsszenarien, wie sie die Autoren aufzeichnen, sind vielfältig und führen nicht unbedingt dazu, ruhig zu schlafen.

Die Schweiz wird erpresst

Wir stehen heute im Grunde genommen wieder vor einer ähnlichen Situation wie unsere Vorväter während des Kriegs 1870/71: einer schlecht ausgerüsteten Armee und einer politischen Führung, die den Verfassungsauftrag nicht ernst nimmt. Gerade die letzten drei Wochen haben gezeigt, wie die USA mit Erpressung und Drohung versuchen, die Schweiz willfährig zu machen. Alle Länder rund herum beobachten genau, wieviel Widerstand die Schweiz zeigt, und rechnen sich bereits aus, wann sie ihre «Attacke» starten sollen. Auch wenn alle von einer globalen Welt sprechen, so ist das Sand in die Augen derer, die meinen, das sei alles unausweichlich. Den Grossmächten geht es aber vor allem darum, die Eigeninteressen zu wahren und diese global durchzusetzen, wo nötig auch mit Waffengewalt.

Erhalt einer gut ausgerüsteten Milizarmee

Die Schweizer Armee, so die Autoren, ist massiv geschwächt und abgebaut worden. Das wird in diesem Buch ungeschminkt zutage gefördert. Aber es gibt sie noch, und in der Schweiz hat die Bevölkerung die einmalige Gelegenheit, selbst über so vitale Fragen wie Krieg und Frieden oder Widerstand und Kapitulation abzustimmen. Das gibt Gelegenheit, die Fehler der Vergangenheit zu korrigieren und dem Land wieder eine Verteidigungsarmee zu geben, die diesen Namen auch verdient. Am 22. September sind wir aufgerufen, über den Erhalt unserer Milizarmee abzustimmen, und im nächsten Frühjahr über den «Tiger»-Teilersatz, den neuen Kampfflieger Gripen. Wie die Schweizer Armee der Zukunft aussehen müsste, wird neben aller berechtigten Kritik des Ist-Zustands der Armee von den Autoren des hier beschriebenen Buches genaustens und überzeugend dargelegt. Es ist ihr Verdienst, dass diese anstehenden Fragen thematisiert und aufgearbeitet werden. Wer sich an diesen Darlegungen orientiert, hat genügend Informationen und Argumente, um im Abstimmungskampf tatkräftig mitzuwirken. Für Militärs, die dieses Desaster sehen, bietet es eine fachliche Unterstützung im Kampf um den Erhalt einer gut ausgebildeten und schlagkräftigen Armee. Es ist an der Zeit, dass ein solches Buch erschienen ist, und es kommt genau zum richtigen Zeitpunkt.    •

Gruppe Giardino: Mut zur Kursänderung. Schweizerische Sicherheitspolitik am Wendepunkt. Eikos Verlag 2013. ISBN 978-3-033-03917-9

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