Hunger ist kein Naturgesetz, sondern politisch gewollt

Hunger ist kein Naturgesetz, sondern politisch gewollt

Jean Ziegler – Hunger als Waffe, Nahrungsmittel als Spekulationsobjekte und was man dagegen tun kann

von Thomas Kaiser

Der US-amerikanische Börsenindex und die deutsche Börse haben vor kurzem ein sogenanntes Allzeithoch erreicht und damit die Verluste, bedingt durch die 2008 begonnene Finanz- und Wirtschaftskrise, wieder wettgemacht. Es herrscht einmal mehr «Casino-Stimmung» und die Folgen, die ein ungezügeltes Spekulieren an der Börse nach sich zieht, scheinen ausgeblendet. Wer nicht dabei ist, hat bald einmal das Gefühl, eine Chance verpasst zu haben, schnelles Geld zu generieren. Alles scheint vergessen, was noch vor ein paar Monaten das Tagesgeschehen bestimmt hat: dass unsere Staaten heillos verschuldet sind, dass die westlichen Regierungen Billionen in den Markt gepumpt haben, damit die unsäglichen Spekulationsgeschäfte weitergehen, dass man Privateigentum zwangsenteignet, um die fälligen Schulden des Staates zu bezahlen, und was sich die Regierungen alles einfallen lassen, um das «Casino» weiter am Leben zu halten.
Doch während die Gewinne an der Börse ins Unermessliche steigen, schnellen die Arbeitslosenzahlen in die Höhe. Frankreich, Italien, Portugal, Spanien; letzteres hat zum Beispiel eine Jugendarbeitslosigkeit, die die 50-Prozent-Marke überstiegen hat.
Wenn wir diese Entwicklung betrachten, müssen wir uns bewusst sein, dass ungerechterweise nur ein verschwindend kleiner Teil der Menschheit von den Spekulationen profitiert. Der grösste Teil steht auf der Verliererseite und trägt die Lasten dieser ungerechten Verteilung. Am schlimmsten sind diejenigen betroffen, die aus den Ländern der dritten Welt kommen und nichts oder fast nichts zu essen haben, während auch Lebensmittel an der Börse zu Höchstpreisen gehandelt werden. Und das hängt mit der allgemeinen Entwicklung zusammen und ist ein Resultat dieser «Casino»-Stimmung. So verdoppelte sich 2011 der Marktpreis des Weizens. Dazu kommt noch die Spekulation von der «Quelle» bis zum Verkauf. Bevor eine Ladung dieses lebenswichtigen Gutes im Bestimmungsland ankommt, wechselt es mehrmals den Besitzer und wird am Ende um ein Vielfaches des ursprünglichen Wertes verkauft. Länder, die diesen Weizen dringend benötigen, können sich ihn kaum noch leisten, weil die Menschen nicht in der Lage sind, den Preis dafür zu bezahlen. Ist das unser soziales System, das die Menschheit – in der Lage, höchste technologische Ansprüche zu erfüllen – im Zeitalter des Homo sapiens sapiens entwickelt hat?

1,2 Milliarden Menschen leben in «extremer Armut»

Einer, der immer wieder auf das schreiende Unrecht aufmerksam gemacht hat, ist der streitbare Soziologieprofessor Jean Ziegler. Als Sonderberichterstatter des Uno-Menschenrechtsrats in Genf für das Recht auf Nahrung und heutiger Vizepräsident des Advisoryboards des Uno-Menschenrechtsrats hat er während seiner Amtsperiode keine Gelegenheit ausgelassen, auf diese schwerwiegende Ungerechtigkeit der Unterernährung von Millionen von Menschen aufmerksam zu machen. Geleitet von einer tiefen inneren Empörung hat er den Industrienationen, aber auch den Schwellen- und Entwicklungsländern den Spiegel vorgehalten und den unmenschlichen Umgang mit den Ärmsten der Armen gegeisselt. Während die Food Stocks (Nahrungsmittelaktien) innert kurzer Zeit teilweise über 100 Prozent zunahmen, vergrösserte sich die Zahl der unterernährten und vom Hunger bedrohten Menschen ständig und liegt jetzt bei nahezu 1 Milliarde.

Vitamin- und Mineralstoffmangel kann zu schwerwiegenden Gesundheits­problemen führen

Jean Zieglers im Herbst 2012 erschienenes Buch, «Wir lassen sie verhungern», zeigt ungeschminkt die Realität auf. Dabei geht Ziegler schonungslos vor. Er klagt die Gier der Börsenhändler genauso an wie die korrupten Regierungen in den Entwicklungsländern, die sich vom Westen bestechen lassen. Die Weltbank schätzt, dass 1,2 Milliarden Menschen in «extremer Armut» leben. Das heisst, sie haben weniger als 1,25 Dollar pro Tag zur Verfügung. Im Jahre 2010 lebten 98 bis 99 Prozent aller Unterernährten in den Entwicklungsländern. Wen wundert das? Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Menschen in den Industriestaaten nicht vom Hunger verschont bleiben. In Spanien muss­te die Regierung auf Grund der von Merkel aufgezwungenen Austeritätspolitik die Sozialausgaben kürzen, was zur Folge hatte, dass «2,2 Millionen Kleinkinder schwerst, permanent unterernährt» sind. (S. 46)
Im Kapitel «Der unsichtbare Hunger» zeigt Jean Ziegler auf, welche Folgen eine lang andauernde Unterernährung für einen jungen Menschen hat. Dabei ist nicht nur der Mangel an Kalorien, was für einen Betrachter von aussen unschwer erkennbar ist, ein Problem, sondern auch der Mangel an Vitaminen und Mineralstoffen. «Vitamin- und Mineralstoffmangel kann nämlich zu schwerwiegenden Gesundheitsproblemen führen: erheblich gesteigerte Anfälligkeit für Infektionskrankheiten, Blindheit, Blutarmut, Antriebslosigkeit, Einschränkung der Lernfähigkeit, mentale Retardierung, angeborene Missbildungen, Tod.» Die Uno nennt das «silent hunger». (S. 50) Ziegler nennt es treffender «unsichtbaren Hunger», da Unterernährung den Körper schwer belastet und die Menschen oft vor Schmerzen schreien. Das dadurch bewirkte Elend ist so unermesslich, dass es kaum auszuhalten ist. Eine der schwersten Krankheiten auf Grund früher Mangelernährung ist die Noma, der wissenschaftliche Name ist Cancerum oris. Besonders Kinder werden auf Grund von Mangel­ernährung von dieser Krankheit befallen, die im wahrsten Sinne des Wortes das Gesicht eines Menschen zerfrisst. 80 Prozent der erkrankten Kinder sterben einen qualvollen Tod. Jährlich gehen in Afrika 120 000 Menschen an dieser Krankheit jämmerlich zugrunde, und das nur, weil die Menschen keinen Zugang zu ausgewogener Ernährung haben.
Neben den körperlichen Schäden weist Ziegler darauf hin, dass die Mangelernährung auch «schwerste Schäden in Geist und Psyche bewirken kann». Es ist für uns, die Satten, kaum vorstellbar, welche Qualen Menschen erleiden, die nicht wissen, wann und wieviel sie am nächsten Tag zu essen bekommen.
«Wie soll eine Mutter, deren Kinder am Abend vor Hunger weinen und der es wie durch ein Wunder gelingt, sich von einer Nachbarin etwas Milch zu leihen, ihre Kleinen am nächsten Tag ernähren? Wie soll sie nicht wahnsinnig werden? Welcher Vater, der ausserstande ist, für den Lebensunterhalt der Seinen zu sorgen, wird in den eigenen Augen nicht jede Würde verlieren?
Eine Familie, die von regelmässigem Zugang zu ausreichender Nahrung ausgeschlossen ist, ist eine zerstörte Familie. Zehntausende indische Bauern, die in den letzten Jahren Selbstmord begangen haben, dokumentieren diese Situation auf tragische Weise.» (S. 53)
Wir leben alle auf demselben Planeten, wir sind Menschen mit allem, was uns ausmacht, und wir dürfen die Augen vor diesen Zuständen nicht verschliessen. Das als ein gegebenes, unveränderliches Schicksal hinzunehmen, wie manche es uns glauben machen wollen, ist nicht zu akzeptieren.

«Die Beseitigung des Hungers liegt in der Verantwortung des Menschen»

Im Kapitel «Der Hunger als Schicksal – Malthus und die natürliche Auslese» werden die Auswirkungen der malthusianischen Auffassung, die bis heute noch Anhänger findet, analysiert und kritisch dargestellt. Der englische Theologe Thomas Malthus kam 1766 zur Welt. Beeindruckt vom Elend des sogenannten Lumpenproletariats zu Beginn des 19. Jahrhunderts, beschäftigte sich der Theologe mit der Frage der Ernährung der Bevölkerung. Er gelangte zu der Auffassung, dass es nicht gelingen würde, der wachsenden Bevölkerung im gleichen Masse genügend Nahrungsmittel zur Verfügung zu stellen. Seiner Auffassung nach wachse die Menschheit unaufhaltsam, während das für die Nahrungsmittelproduktion zur Verfügung stehende Land begrenzt sei. Für Malthus war, wie Ziegler darlegt, «der Bevölkerungsrückgang durch Hunger die einzige Möglichkeit, um die unausweichliche wirtschaftliche Katastrophe abzuwenden. Hunger unterliegt also dem Gesetz der Notwendigkeit.» Eine verheerende Auffassung, die sich bis heute in gewissen Kreisen gehalten hat und vor allem denjenigen, die an die Unausweichlichkeit dieses Gesetzes glauben, ein schlechtes Gewissen verwehrt. Damit lässt sich alles rechtfertigen, im verheerendsten Falle auch der Krieg, der durch die damit verbundene Dezimierung zu einer «natürlichen Auslese» führt.
Zum Glück hat die Menschheit auch andere Denker hervorgebracht, die über das Naturrecht, verankert in der Tradition der christlich-abendländischen Kultur und der Aufklärung, zu wichtigen Erkenntnissen gekommen sind, besonders dass das menschliche Leben einzigartig ist und mit allen Mitteln geschützt werden muss, was letztlich in der Uno-Charta und in der Unantastbarkeit der menschlichen Würde seinen Niederschlag gefunden hat. Nach dem Schrecken des Zweiten Weltkrieges setzte sich langsam die Auffassung durch: «Die Beseitigung des Hungers liegt in der Verantwortung des Menschen, es gibt bei diesem Problem keine schicksalhafte Unausweichlichkeit.» (S. 104)
Unsere Mutter Erde bietet genügend Anbaufläche, um die anwachsende Menschheit mit ausreichend Nahrungsmitteln zu versorgen. Laut einer Untersuchung gibt es im Kongo so viel fruchtbaren Boden, dass man ganz Afrika mit Nahrungsmitteln versorgen könnte.

Geopolitik des Hungers

Einen wichtigen Beitrag in der Aufarbeitung der Hungerfrage und in der sich langsam verändernden Einstellung leistete nach Jean Ziegler der brasilianische Arzt Josué de Castro. «Mehr als jeder andere hat ein Mann den Völkern des Westens das Problem des Hungers zu Bewusstsein gebracht: der brasilianische Arzt Josué Apolônio de Castro.» (S. 103ff.) Berührt vom Elend der ausgemergelten und abgemagerten Menschen, machte er sich daran, die Ursachen für den Hunger zu untersuchen. In seinem Hauptwerk «Geografia da fome» kam er zu dem Schluss, «dass der Hunger, auch wenn er teilweise den geographischen Bedingungen angelastet werden kann, in erster Linie ein politisches Phänomen ist. Für die Fortdauer seiner Existenz ist nicht die Bodenbeschaffenheit verantwortlich, sondern ganz allein das Handeln des Menschen.» (S. 109)
Während Malthus mit seiner verheerenden Theorie Hunger als eine «Naturerscheinung» betrachtete und «zur Rechtfertigung des Massensterbens das ‹Gesetz der Notwendigkeit›» bemühte, führte Castro zu Bewusstsein, «dass dauerhafte Unter- und Mangelernährung die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit beeinträchtigt, die Hungernden wie die Satten». In einer Aussage machte Castro das sehr deutlich: «Die Hälfte der Brasilianer schläft nicht, weil sie Hunger hat, aber die andere Hälfte schläft nicht, weil sie Angst hat vor denen, die Hunger haben.» Wenn ein Erdenbürger hungert, betrifft es immer die ganze Menschheit.

Unter dem Deckmantel der Menschenrechte werden Unschuldige vernichtet

Dass der Hunger auch gezielt als Waffe eingesetzt werden kann, hat nicht erst Adolf Hitler erkannt, der mit seiner Strategie der «verbrannten Erde» während der deutschen Feldzüge Dutzende fremder Völker verhungern liess. Schon während der russischen Revolution und der nachfolgenden Zwangskollektivierung sind Millionen von Menschen dem Hunger zum Opfer gefallen, die sich nicht der kommunistischen Diktatur unterwerfen wollten oder nicht mit den Direktiven des Zentralkomitees aus Moskau einverstanden waren. Ganz zu schweigen von den europäischen Eroberungszügen während der Kolonialzeit und der Zeit des Imperialismus. Aber auch heute wird die Hungerwaffe eingesetzt, nicht so offensichtlich wie unter Hitler und meist unter dem Deckmantel, die Menschenrechte verteidigen zu müssen.
Die auf Druck des Westens eingeführten Uno-Sanktionen gegen den Irak haben nahezu 1 Million Menschen den sicheren Tod gebracht, auf Grund blockierter Medikamentenlieferungen und fehlender Nahrungsmittel. Die Lage in Iran, der ebenfalls seit Jahren unter Sanktionen gestellt ist, hat auch die Versorgungslage des Landes, das mehrheitlich vom Ölexport gelebt und seine Landwirtschaft deswegen wenig gefördert hat, schwerst beeinträchtigt. In einem Nachtrag, «Das Ghetto von Gaza», erwähnt Ziegler die Lage im Gaza-Streifen. Gemäss Genfer Konventionen wäre die Besatzungsmacht Israel für die Versorgung der dort lebenden Menschen verantwortlich. Tatsache ist aber, dass 2010 durch die Blockade-Politik «über 80 Prozent der Einwohner […] zum Überleben auf internationale Hilfe angewiesen» waren. (S. 65)
Es ist völlig absurd, dass für den angeblichen Schutz der Menschenrechte Unschuldige vernichtet werden. Hier wird offensichtlich, dass es um die Machtinteressen besonders der Grossmächte geht. Das Recht, die Ressourcen eines anderen Staates auszubeuten oder wie auch immer geartete Reformen in einem Land zu erzwingen, wenn nötig auch mit Waffengewalt, ist zwar Bestandteil der neuen Nato-Doktrin, hat aber mit Menschenrechten rein gar nichts zu tun, sondern steht dazu in krassem Widerspruch.
Hunger als Waffe ist verheerend und heute nicht weniger tödlich und vernichtend als während des Zweiten Weltkriegs.

Biotreibstoff für die Satten statt Nahrungsmittel für die Hungernden

Viele Länder haben in der Folge von Freihandelsabkommen ihrer Landwirtschaft zuwenig Beachtung geschenkt. Damit sind sie auf den Import ausländischer Güter angewiesen. Das betrifft auch unser Land, das nahezu 45 Prozent der Nahrungsmittel einführen muss. Solange die Staaten friedlich miteinander umgehen, besteht keine Gefahr, doch haben wir den «ewigen Frieden» bisher noch nicht erreicht und die Arroganz der grossen Nationen, wenn es um ihren Vorteil geht, lässt sich tagtäglich beobachten. Es zählt zu den wichtigen Grundsätzen eines Staates, ein Höchstmass an Souveränität und Unabhängigkeit zu erhalten; dazu gehört, eine ausreichende Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln sicherzustellen, und die Möglichkeit, sich mit einer schlagkräftigen Armee im Notfall gegen Angriffe von aussen wehren zu können.
Es wäre nicht Jean Ziegler, wenn er in seinem Buch nicht Ross und Reiter benennen würde. Er geht mit der Uno, die gerade in der Hungerfrage nach seiner Meinung schwer versagt hat, weil sie von den Industrienationen dominiert wird, genauso ins Gericht wie mit anderen internationalen Organisationen wie WTO, Weltbank und IWF. Doch nicht nur der Westen, der mit rücksichtsloser Interessenpolitik andere Länder und deren Völker ausbeutet und in den Ruin treibt, sondern auch die vielfach vom Westen abhängigen Regierungen und Wirtschaftsunternehmen in den Schwellen- und Entwicklungsländern tragen mit ihrer häufig egoistischen und auf Machterhalt ausgerichteten Politik zur Perpetuierung der Hungerproblematik bei.
Verschiedene Länder in Afrika haben fruchtbarstes Land verkauft, auf welchem jetzt Mais oder Soja für Biotreibstoff angebaut wird, während die eigene Bevölkerung in der Abhängigkeit von Uno-Nahrungsmittellieferungen bleibt. Besonders krass sind die Gegensätze in Ländern wie Brasilien und Indien. Beide Länder haben aufstrebende Märkte, die eine grosse Kapazität besitzen, und gleichzeitig leben Hunderttausende unterhalb der Armutsgrenze und wissen nicht, wie sie den nächsten Tag überstehen sollen. Viele der Entwicklungsländer haben riesige Ländereien an private Konzerne verkauft, die die fruchtbaren Böden nicht für Nahrungsmittel nutzen, sondern um angeblich weniger umweltschädlichen Biotreibstoff herzustellen. Für 50 Liter Bioäthanol braucht man 7 Zentner Mais … Das Zahlenverhältnis ist katastrophal!

Nahrungsmittelmärkte sind Opfer von Heuschrecken

Jean Zieglers Buch zeigt in aller Deutlichkeit auf, in welche Hungerkatastrophe die Menschheit marschiert, wenn nicht dringend ein Umdenken beginnt. Was auf den Finanzmärkten zur Katastrophe geführt hat, nämlich die Theorie, der Markt regle alles und die Globalisierung sei ein Vorteil für alle, besonders für die Ärmsten, hat sich als völlig unhaltbar herausgestellt. Wer davon profitiert, sind die Grossfinanz und bestimmte Industriezweige sowie diejenigen, die mit der Globalisierung den Nationalstaat abschaffen und globale Regeln ohne demokratische Legitimation für alle aufstellen wollen. Wenn man jedoch die EU-Länder betrachtet, hat sich die Armut mehrheitlich vergrössert, während sich die Börsenkurse in Rekordhöhen bewegen. Die Souveränität der Nationalstaaten wird besonders in der EU immer mehr eingeschränkt. Länder, denen wie Griechenland mit hohen Summen «geholfen» wird, müssen sich gefallen lassen, dass fremde Finanzkommissare ihren Haushalt kontrollieren.
Als die Börse 2008 ins Wanken geriet und viele Anleger ihre Titel verkauften und danach auf Unsummen von Geldern sassen, haben diese für das frei gewordene Kapital neue Investitions- oder Spekulationsmöglichkeiten gesucht. Eines dieser Heuschreckenopfer waren die Nahrungsmittelmärkte. Diese gibt es zwar schon lange, aber sie haben nie diesen Wildwuchs erlebt wie in den letzten 5 Jahren. Ziegler schreibt dazu: «Für die Spekulanten sind Agrarerzeugnisse Marktprodukte wie alle anderen. Sie interessiert nicht im mindesten, was ihr Handeln für Millionen von Menschen infolge der Preissteigerung bedeuten kann.» Im Gegensatz zum Händler kauft der Spekulant die Waren am Ende nicht, er spekuliert nur mit den Preisen und setzt auf ihren Anstieg oder auf ihren Fall. Dadurch entsteht im Bereich der Nahrungsmittelbörse eine riesige Blase, die, wenn sie zum Platzen kommt, enorme Vermögenswerte zerstört und die Wirtschaft in den Abgrund reisst. Die Folge werden Armut und noch grösserer Hunger sein. Um diesem Treiben Schranken zu setzen, haben die Jungsozialisten der Schweiz eine Initiative lanciert, die der Spekulation mit Nahrungsmitteln Schranken setzen soll. (vgl. Kasten: «Die Spekulationsstopp-Initiative») Rohstoffbörsen sind nicht per se ein Problem, sondern «dienten ursprünglich der preislichen Absicherung für die Nahrungsmittelproduzenten und Verarbeiterinnen […]. Die exzessive Spekulation, wie sie heute an den Rohstoffmärkten vorherrscht, hat aber keine absichernde Funktion mehr. Im Gegenteil, die Preise werden immer wieder massiv in die Höhe getrieben und schwanken extrem, weil der Markt mit enorm viel Kapital geflutet wird.» (Argumentarium Spekulationsstopp-Inititiative.)
Viele aus meiner Generation werden sich an den Ende 1979 ausgestrahlten Kinofilm «Septemberweizen» erinnern, der damals schon in aller Deutlichkeit auf diese Spekulationsproblematik aufmerksam gemacht hat, noch vor «Gentech» und «Globalisierung». (vgl. Kasten)

Kleinräumige Landwirtschaft, organisiert in Familienbetrieben oder in Genossenschaften, als Lösung für die Hungerproblematik

Was Jean Ziegler mit seinem Buch auch erreicht, ist ein vermehrtes Nachdenken über die Dinge, die unser Weltgeschehen bestimmen. Sein Buch ist ein klares Plädoyer gegen die Globalisierung und das hemmungslose Aussaugen der teilweise sehr fragilen Volkswirtschaften. Es ist aber auch ein klares Bekenntnis zur Demokratie, wenn er zum Beispiel für Deutschland vorschlägt: «Durch vielfältige Formen politischen Engagements könnte das Volk auf das Parlament einwirken mit dem Ziel, das Börsengesetz zu ändern und die Spekulation auf Grundnahrungsmittel zu verbieten, das Agrardumping der EU und die Einfuhr vor Agrotreibstoffen zu verbieten.» (S. 305) Es ist aber auch eine Bestätigung des Weltagrarberichts, der Ernährungssouveränität, das heisst eine von den Bürgerinnen und Bürgern selbstbestimmte Landwirtschafts­politik, fordert und die kleinräumige Landwirtschaft, organisiert in Familienbetrieben oder in Genossenschaften, als Lösung für die Hungerproblematik empfiehlt. Ziegler zitiert die Präambel in der Erklärung, die Via Campesina im März 2011 dem Menschenrechtsrat in Genf vorgelegt hat:
«Die Bauern und Bäuerinnen stellen fast die Hälfte der Erdbevölkerung. Selbst in der Welt der Hochtechnologie essen die Menschen die Nahrungsmittel, die die Bauern erzeugen. Die Landwirtschaft ist nicht einfach eine wirtschaftliche Tätigkeit, sondern aufs engste mit dem Leben und Überleben auf unserer Erde verknüpft. Die Sicherheit der Bevölkerung hängt vom Wohlergehen der Bauern und einer nachhaltigen Landwirtschaft ab. Um das Leben der Menschheit zu schützen, müssen wir die Rechte der Bauern anerkennen und durchsetzen. Tatsächlich bedroht die fortgesetzte Verletzung der Rechte der Bauern das menschliche Leben und den Planeten.»
Trotz aller finsteren Vorgänge in bezug auf Gewinnung und Verteilung der Nahrungsmittel gelingt es Jean Ziegler, den Leser nicht in einer Depression versinken zu lassen. Angesteckt von seinem ehrlichen Engagement für die Hungernden auf unserer Erde und seiner menschlichen Empörung über die Missstände, die die Menschen kreiert haben und die sie deshalb auch wieder verändern können, wenn der politische Wille vorhanden ist, entsteht ein Bewusstsein, das nicht nur das Schlechte kultiviert, sondern zum aktiven Handeln anregt. Und gehandelt werden muss vor allem in den demokratischen Industriestaaten. Hier ist die Möglichkeit gegeben, sich in den politischen Diskurs einzuschalten, mit den Nachbarn und Freunden das Gespräch zu suchen, um so ein Bewusstsein zu schaffen, das zu einer Verbesserung der Situation beiträgt. Für Jean Ziegler ist ganz klar, und sein Buch beweist das auch, der Hunger ist nicht, er wird von Menschen gemacht. Die Erde könnte spielend noch ein paar Milliarden Menschen mehr ernähren.
Ein Gedicht von Mercedes Sosa, welches das Buch beschliesst, drückt aus, was Jean Ziegler letztlich mit seinem grossen Engagement erreichen möchte:

«Nur eines erbitte ich von Gott
Dass der Schmerz mich nicht gleichgültig lasse
Und dass der bleiche Tod mich nicht allein und leer finde,
ohne dass ich getan habe, was notwendig war auf dieser Erde»

 

thk. Das Volumen der Geschäfte, die in Genf mit Rohstoffen – darunter vielen Agrarrohstoffen in Lebensmitteln – abgewickelt wurden, belief sich im Jahr 2000 auf 1,5 Milliarden Dollar, 2009 auf 12 Milliarden und 2010 auf 17 Milliarden Dollar.1
2010 schätzt die Nationalbank die Anlagen in Investmentfonds, die in der Schweiz gehandelt wurden, auf 4,5 Billionen Schweizer Franken… Doch nur ein Drittel dieser astronomischen Summe schlummert in Schweizer Investmentfonds. Anders gesagt: Fonds, deren Verwaltung dem Schweizer Recht unterliegt.2
Die meisten in der Schweiz verkauften Hedgefonds haben ihren Sitz auf den Bahamas, den Kaimaninseln, auf Curacao, Jersey, Aruba, Barbados etc., wodurch sie jeder gesetzlichen Kontrolle in der Schweiz entzogen sind.

1 vgl. Matthew Allen, «Genève, paradis du négoce», Le Courrier, Genf, 28. März 2011
2 vgl. die Studie von Elisabeth Eckert, «1500 milliards de francs suisse au moins échappent à tout contrôle en Suisse», Le Matin Dimanche, 3. April 2011

 

Die Spekulationsstopp-Initiative

Der Initiativtext:
Wir sammeln 100 000 Unterschriften für die eidgenössische Volksinitiative «Keine Spekulation mit Nahrungsmitteln». Damit wollen wir die Bundesverfassung mit folgendem Text ergänzen:

I. Die Bundesverfassung wird wie folgt geändert:
Art. 98a (neu) Bekämpfung der Spekulation mit Agrarrohstoffen und Nahrungsmitteln

1 Der Bund erlässt Vorschriften zur Bekämpfung der Spekulation mit Agrarrohstoffen und Nahrungsmitteln. Dabei hält er sich an folgende Grundsätze:
a. Banken, Effektenhändler, Privatversicherungen, kollektive Kapitalanlagen und ihre mit der Geschäftsführung und Vermögensverwaltung befassten Personen, Einrichtungen der Sozialversicherung und andere institutionelle Anleger und unabhängige Vermögensverwalter mit Sitz oder Niederlassung in der Schweiz dürfen weder für sich noch für ihre Kundschaft und weder direkt noch indirekt in Finanzinstrumente investieren, die sich auf Agrarrohstoffe und Nahrungsmittel beziehen. Dasselbe gilt für den Verkauf entsprechender strukturierter Produkte.
b. Zulässig sind Verträge mit Produzenten und Händlern von Agrarrohstoffen und Nahrungsmitteln über die terminliche oder preisliche Absicherung bestimmter Liefermengen.

2 Der Bund sorgt für einen wirksamen Vollzug der Vorschriften. Dabei beachtet er folgende Grundsätze:
a. Aufsicht sowie Strafverfolgung und -beurteilung sind Sache des Bundes.
b. Fehlbare Unternehmen können unabhängig von Organisationsmängeln direkt bestraft werden.

3 Der Bund setzt sich auf internationaler Ebene dafür ein, dass die Spekulation mit Agrarrohstoffen und Nahrungsmitteln weltweit wirksam bekämpft wird.

II. Die Übergangsbestimmungen der Bundesverfassung werden wie folgt geändert:

Art. 197 Ziff. 9 (neu)
9. Übergangsbestimmung zu Art. 98a (­Bekämpfung der Spekulation mit Agrarrohstoffen und Nahrungsmitteln)

Treten innerhalb von drei Jahren nach Annahme von Artikel 98a durch Volk und Stände die entsprechenden gesetzlichen Bestimmungen nicht in Kraft, so erlässt der Bundesrat die nötigen Ausführungsbestimmungen auf dem Verordnungsweg; diese gelten bis zum Inkrafttreten der gesetzlichen Bestimmungen.
 

Die Initiative will …

… Spekulanten stoppen …
Die Finanzkonzerne machen vor keiner Grenze halt. Sie treten die grundlegenden Bedürfnisse der Menschen mit Füssen. Die Spekulanten wetten auf steigende Nahrungsmittelpreise und profitieren von Hunger und Elend, ohne reale Werte zu schaffen. Spekulation ist in allen Bereichen unnötig und dient nur Superreichen und Finanzkonzernen zur Bereicherung auf Kosten der Ärmsten. Stoppen wir gemeinsam die widerlichste Form der Profitmacherei – die Spekulation mit Nahrungsmitteln.

… Hunger bekämpfen …
Nur noch ein kleiner Teil des Nahrungsmittelhandels dient dem realen Austausch, der überwiegende Teil sind Wetten an der Börse. Diese Nahrungsmittelspekulation führt immer wieder zu unglaublichen Schwankungen und massiv erhöhten Nahrungsmittelpreisen. Millionen Menschen werden in Armut und Hunger getrieben. Wir wollen den Nahrungsmittelhandel zurück auf den Boden der Realität holen, damit dieser wieder auf die Versorgung der Menschen ausgerichtet ist.

… global denken, lokal handeln
Ein grosser Teil der Spekulation auf Nahrungsmittel läuft über Schweizer Banken,  und die grössten Rohstoffunternehmen der Welt haben hier ihren Firmensitz. Der Kampf gegen das Geschäft mit Hunger muss deshalb hier beginnen. Die Schweiz kann ein starkes Zeichen gegen die Nahrungsmittelspekulation setzen, das auch weltweit Wirkung zeigt.

Quelle: <link http: www.juso.ch files>www.juso.ch/files/120917_Argumentarium_ausfuehrlich.pdf    

Zwischen 2003 und 2008 haben die Spekulationen auf Rohstoffe mittels Indexfonds um 23% zugenommen. Laut FAO (Bericht 2011) führen nur 2% der Rohstoff-Futures tatsächlich zur Lieferung einer Ware. Die restlichen 98%werden noch vor dem Fälligkeits­datum weiterverkauft. Frederick Kaufmann fasst die Situation wie folgt zusammen. «Je stärker die Rohstoffpreise für Lebensmittel steigen, desto mehr Geld fliesst in diesen Markt, desto höher steigen die schon hohen Preise.»1

1 Frederick Kaufmann, zitiert in: Horand Knaup, Michael Schiessl und Anne Seith, «Die Ware Hunger», Der Spiegel, Hamburg, 29.8.2011

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Untersuchung über den Verlust von Früchten und Gemüse bei der Produktion

thk. Im Land der unbegrenzten Möglichkeiten scheint auch der achtlose Umgang mit Nahrungsmitteln unbegrenzt zu sein. Das in den USA domizilierte Natural Recources Defense Council (NRDC) hat in einer detaillierten Studie dargestellt, dass über 40 Prozent der produzierten Nahrungsmittel nicht beim Endverbraucher, also den Bürgerinnen und Bürgern, auf dem Tisch landen, sondern im Müll bzw. bei der Produktion und der Verteilung vernichtet werden. Damit wird «die Gelegenheit verpasst», wie sie selbst schreiben, dass die grosse Zahl der weltweit Bedürftigen in den Genuss dieser Lebensmittel kommt. Die FAO schätzt, dass 20 Prozent des vorhandenen Obstes und Gemüses bei der Produktion vernichtet werden.

 

Der Film «Septemberweizen»

Der Begriff «Septemberweizen» bezeichnet einen im September in den USA fälligen Weizenkontrakt. Der Film zeigt in sieben Kapiteln den Weg des Weizens vom Anbau in Amerika bis zum Verbraucher. Er beleuchtet, wie in den USA Farmer, Wissenschaftler, Händler, Verarbeiter und Politiker mit ihm umgehen. Saatgutzüchter werfen immer ertragreichere Hybriden auf den Markt und machen die Farmer von sich abhängig. Um ihren Überschuss abzusetzen, starteten die USA das Dumping-Programm «Nahrung für den Frieden» und liessen den Weizen in die dritte Welt fliessen. Beispiele aus Afrika, Lateinamerika und Asien zeigen, wie sie ihn durch Zuteilung oder Entzug als politische Waffe einsetzen. Die Weizenbörse in Chicago ist das Zentrum des Weltweizenhandels. Hier wird spekuliert, hier werden die Preise gemacht. «Continental Bakeries» stellen rund um die Uhr ein mit Aromastoffen und chemischen Substanzen versetztes «Wunderbrot» her, das kaum Nährwert besitzt und dazu beiträgt, dass die Ernährung immer gesundheitsschädlicher wird.

Quelle: <link http: www.film.at septemberweizen_1>www.film.at/septemberweizen_1/detail.html?cc_detailpage=full

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