«Eine multipolare Weltordnung nimmt Gestalt an»

XXX. Kongress «Mut zur Ethik» vom 1.–3. September 2023

von Eva-Maria Föllmer-Müller, Schweiz

Vom 1.–3. September 2023 trafen sich rund 150 Teilnehmer und 20 Referenten aus Europa, Afrika, Asien und den USA zum diesjährigen Kongress «Mut zur Ethik» im schweizerischen Thurgau. Eingeladen hatte die Arbeitsgemeinschaft «Mut zur Ethik».

Seit nunmehr 30 Jahren, seit 1993, kommen einmal im Jahr Gäste aus verschiedenen europäischen Ländern und zahlreiche Referenten aus der ganzen Welt zusammen, um während dreier Tage im gleichwertigen Dialog brennende Fragen der Zeit miteinander zu diskutieren. Wie schon im vergangenen Jahr wurden die Gespräche wieder im Hybrid-Format geführt, so dass neben den Anwesenden auch Referenten und Teilnehmer aus verschiedenen Ländern zugeschaltet werden konnten.
  Das Thema des diesjährigen Kongresses war: «Eine multipolare Weltordnung nimmt Gestalt an – Menschsein und Menschlichkeit in einer sich verändernden Welt».
  Die Welt, so wurde eingangs festgestellt, ist im Umbruch: Die Mehrheit der nicht-westlichen Länder meldet sich selbstbewusst zu Wort und handelt umsichtig, aber auch entschlossen. Zusammenschlüsse werden gebildet, vom Willen getragen, gleichberechtigt zusammenzuarbeiten und so die eigenen Interessen mehr wahrzunehmen und einzubringen sowie gemeinsame Ziele und Wege mit den anderen konstruktiv auszuhandeln.
  Vieles weist jedoch darauf hin, dass sich die tonangebenden Kräfte im Westen bis heute der «neuen» Realität verweigern. Ein deutlich spürbares Aufatmen geht indes durch den «Rest der Welt», d.h. jenseits des Westens. Länder, die schon lange unter westlicher Dominanz, Arroganz und neokolonialem Zwang leiden, fassen Mut und machen nicht mehr mit; sie sagen einfach «nein». Nein zu Ungleichbehandlung und Unterordnung; sie akzeptieren es nicht mehr. Statt dessen fordern sie gegenseitigen Respekt der Länder und gleichberechtigten Umgang; Frieden, Entwicklung, Zusammenarbeit und Fortschritte für alle. Dieser Prozess hin zu einer unabhängigeren Entwicklung in den nicht-westlichen Ländern spielt sich vor unseren Augen ab, sei es in Südostasien, in Zentralasien, im Nahen Osten, in Lateinamerika oder in Afrika. Dieser Prozess ist nicht zu stoppen, auch wenn der Weg nicht leicht ist. Auch weil der bislang mächtige Westen nicht eingeht.
  Wang Wen, Professor und leitender Dekan des Chongyang-Instituts für Finanzstudien an der Renmin-Universität von China, hat Anfang 2023 diesen Prozess folgendermassen beschrieben: «Die nicht-westliche Welt bietet ein Bild, das es so noch nie gegeben hat. Ihre Antwort auf die westliche Hegemonie besteht nicht unbedingt in Konfrontation, Konflikten oder dem Beharren auf gegenseitiger Kontrolle. Statt dessen schütteln sie einfach die westliche Kontrolle ab, indem sie ihre nationalen Interessen zunehmend in den strategischen Mittelpunkt stellen. Eine demokratischere Form der internationalen Politik und gegenseitiger Respekt sind ihre Hauptforderungen. Es entsteht ein gleichberechtigtes politisches Verhältnis zwischen dem Westen und dem Rest, und dies wird ein wichtiges Merkmal der Weltpolitik in diesem dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sein. Die Welt wird im Jahr 2023 nicht sanft sein, aber die Bewegung der Entwestlichung ist unumkehrbar und wird nur weiter voranschreiten.»
  Die westliche Welt steht an einem historischen Scheidepunkt. Hat sie die Grösse, eine ernsthafte Gewissenserforschung zu betreiben und kritisch zu prüfen, was sie getan oder mitgetragen hat, ihre Arroganz und ihre Vorurteile abzulegen und hegemoniale, herrschsüchtige Praktiken aufzugeben? Kooperiert sie und begibt sie sich endlich auf einen konstruktiven Weg, der ein am Wohl aller Menschen orientiertes Zusammenleben ermöglichen könnte? Besinnt sich Europa auf sein humanistisches Erbe mit seiner grundlegenden, dem Menschen und seiner Natur entsprechenden kulturellen Substanz? Die geistigen Grundlagen für das menschliche Zusammenleben liegen schon längstens vor; sie füllen viele Bibliotheken.
  Seitdem die hochgeschätzte Historikerin und Psychologin Dr. Annemarie Buchholz-Kaiser «Mut zur Ethik» vor 30 Jahren begründet hat, werden diese bewährten Grundlagen auch bei unseren Konferenzen mit einbezogen. Hierzu gehören insbesondere die humanistischen Traditionen der monotheistischen Religionen, der neuzeitliche Humanismus, das moderne Naturrecht, die Errungenschaften der Aufklärung, die moderne Anthropologie und die personale Psychologie. Inhaltliche Kernpunkte sind die Anerkennung und Achtung der menschlichen Würde, das Streben nach dem Wohl für alle, dem Bonum commune, der Schutz der unveräusserlichen Rechte aller Menschen und die sittliche Verantwortung eines jeden von uns. Die Conditio humana hat sich in den meisten Kulturen unserer Welt herausgebildet. 
  Menschsein und Menschlichkeit müssen auch in einer sich verändernden Welt einen zentralen Platz haben.
  In dieser Ausgabe veröffentlichen wir eine erste Auswahl von Kongressbeiträgen. Weitere Beiträge werden in folgenden Ausgaben von Zeit-Fragen publiziert.  •

«Mut zur Ethik»

ef. Seit 1993 veranstaltet die Arbeitsgemeinschaft «Mut zur Ethik» jedes Jahr einen Kongress mit Wissenschaftlern und Experten aus verschiedenen Disziplinen und Ländern. Mit den Kongressen und durch den kontinuierlichen Austausch während des Jahres wurde inzwischen ein Verbund geschaffen, der Menschen aus verschiedenen Teilen der Welt miteinander in einem fruchtbaren, konstruktiven Dialog verbindet und aus dem immer wieder auch konkrete Projekte und Aktivitäten hervorgehen.

Unsere Website verwendet Cookies, damit wir die Page fortlaufend verbessern und Ihnen ein optimiertes Besucher-Erlebnis ermöglichen können. Wenn Sie auf dieser Webseite weiterlesen, erklären Sie sich mit der Verwendung von Cookies einverstanden.
Weitere Informationen zu Cookies finden Sie in unserer Datenschutzerklärung.
 

Wenn Sie das Setzen von Cookies z.B. durch Google Analytics unterbinden möchten, können Sie dies mithilfe dieses Browser Add-Ons einrichten.

OK