Volksdiplomatie in einer sich wandelnden Welt

von Yury Starovatykh, Russland*

Zunächst möchte ich allen Teilnehmern des Forums «Mut zur Ethik» zum 30jährigen Bestehen dieser bemerkenswerten Veranstaltung gratulieren! Trotz des beachtlichen Alters des Forums ist seine Agenda immer noch höchst aktuell, und seine Organisatoren bleiben Verfechter des Humanismus und setzen sich für den Glauben an die Menschlichkeit ein, trotz aller Turbulenzen auf der internationalen Bühne. Wenn ich mich fünf Jahre zurückerinnere an unsere Begegnung beim Forum im Ort Sirnach, dann denke ich nicht an das Birnenbrot, das wir gegessen haben, und auch nicht an den Ausflug in die Berge, den wir unternommen haben, sondern vor allem an die herzliche Haltung aller Redner, die selbst dann deutlich wurde, wenn sie über die barbarischen Aktionen der USA in Jugoslawien sprachen – einschliesslich des Einsatzes von Munition mit abgereichertem Uran – und vor allem an ihre Sorge, ob der Krieg nun vor der Tür stehe oder nicht. Ich danke Ihnen für diese Erinnerungen!

Aus Stalingrad nichts gelernt

Ich spreche jetzt aus Wolgograd, einer Stadt, die unter ihrem früheren Namen – Stalingrad – in der ganzen Welt bekannt ist. Als kaum sechsjähriges Kind habe ich die Schrecken, die ein Krieg mit sich bringen kann, persönlich miterlebt. In diesem Jahr feiern wir den 80. Jahrestag eines wichtigen historischen Ereignisses – des Endes der Schlacht von Stalingrad. Es gibt keinen einzigen Menschen auf der Welt, der nicht weiss, dass der Sieg der sowjetischen Truppen in Stalingrad der Wendepunkt des Zweiten Weltkriegs war; dass es genau dieser Sieg war, der die Menschen glauben liess, dass die Vernichtung des Nazismus und des Faschismus eine Aufgabe war, die erreicht werden konnte und würde. Hier, an den Ufern der Wolga, begann vor 80 Jahren der Marsch zum Sieg über die «braune Pest».
  Man sollte meinen, dass die Nürnberger Prozesse mit einem eindeutigen Ergebnis endeten – dass der Faschismus vernichtet wurde, dass die Bibel Recht hatte, als sie sagte, dass «das Gute immer über das Böse triumphieren wird», und dass die Lektion von Stalingrad von allen Menschen mit Verstand gelernt werden sollte. Aber nein! Auch wenn die UdSSR – dieser ständige Dorn im Auge der USA und des Westens – längst verschwunden ist, ist die Mehrheit der europäischen Politiker immer noch von Neid zerfressen. Sie können nicht in Frieden leben, wenn sie wissen, wie gross und gewaltig Russland ist – das Land, das der Westen seit Anbeginn der Zeiten als seinen Feind betrachtet hat, das Land, das die livländischen Ritter, Napoleon und Hitler alle versucht haben, seiner Ressourcen zu berauben, … und das seine Invasoren immer wieder mit ein paar fehlenden Zähnen nach Hause geschickt hat!
  Am besten hat es der deutsche Reichskanzler Otto von Bismarck formuliert: «Gehen Sie nicht davon aus, dass Sie, nachdem Sie einmal von der Schwäche Russlands profitiert haben, für immer Ihre Dividende kassieren können. Die Russen kommen immer, um ihr Geld zurückzufordern. Und wenn sie kommen – hoffen Sie nicht, dass diese jesuitischen Verträge, die Sie früher unterzeichnet haben, um sich zu rechtfertigen, Ihnen irgendeinen Schutz bieten werden. Diese Vereinbarungen sind das Papier nicht wert, auf dem sie geschrieben sind. Mit den Russen spielt man entweder fair oder gar nicht.» Ich spreche hier über die Minsker Abkommen und die Nichterweiterung der Nato nach Osten, über das Wiederaufleben des Faschismus in der Ukraine und mehreren europäischen Ländern.
  Und doch ist dieses bedeutende historische Datum – der Jahrestag des Endes der Schlacht von Stalingrad – mehr als eine Erinnerung an den Krieg. Es ist eine Erinnerung an die Solidarität zwischen den Nationen, die gemeinsam gegen den Feind kämpften, und an die Solidarität zwischen den Städten. Denn der Sieg von Stalingrad hatte noch ein weiteres Ergebnis: die Geburt der internationalen Partnerschaftsbewegung, der Bewegung der Partner- und Schwesterstädte, die auf der Grundlage der Volks- oder Bürgerdiplomatie zusammenarbeiten.
  Die Begründer dieser Bewegung waren das sowjetische Stalingrad und das britische Coventry, die durch die Tragödie des Zweiten Weltkriegs zusammengeführt wurden. Beide Städte, die sich auf den gegenüberliegenden Seiten Europas befinden, wurden von den Nazis fast vollständig zerstört. Und ihre Bewohner – die Menschen in Stalingrad und Coventry – unterstützten sich gegenseitig in ihrer gemeinsamen Tragödie und im Namen des Friedens. Im Juni 1944 verkündeten sie die brüderliche Vereinigung ihrer beiden Städte und machten damit den ersten Schritt in der Geschichte der internationalen Bewegung, die aus einer einzigen Quelle zu einem gewaltigen Fluss wurde, vergleichbar mit der Wolga, dem Nil und dem Mississippi. Wichtig ist, dass die Bewohner der beiden Städte dies aus eigenem Antrieb und nicht auf Anweisung ihrer Regierung taten. Das ist es, worum es bei der Volksdiplomatie geht.

Volksdiplomatie – gerade heute

In unseren schwierigen Zeiten wird die Interaktion zwischen den Nationen – auf der Ebene der normalen Bürger und nicht der Politiker – immer wichtiger. Während amerikanische und europäische Politiker die Russophobie fördern und das Verbot der russischen Kultur und die Auslöschung unserer traditionellen Werte fordern, kommen europäische Bürger nach Russland, um von Angesicht zu Angesicht mit unserem eigenen Volk menschliche Beziehungen zu pflegen und zu entwickeln.
  In den letzten anderthalb Jahren habe ich mich als Vorsitzender der Wolgograder Niederlassung der «Russischen Friedensstiftung» zweimal mit deutschen Bürgern getroffen – mit Teilnehmern des Autorennens «Für den Frieden mit Russland» und mit Mitgliedern der Organisation «Berliner Freunde der Völker Russlands». Es waren Menschen unterschiedlichen Alters, unterschiedlicher Berufe und Lebensformen. Aber sie alle kamen in unser Land, um sein wahres Gesicht zu sehen, und nicht das, das von den westlichen Medien propagiert wird.
  Im August 2023, als die deutschen Teilnehmer des Autorennens nach Wolgograd kamen, wies ihr Leiter Reinhold Gross zu Recht darauf hin, dass das Hauptziel solcher Reisen darin besteht, «ein kleines Rad im grossen Kampf für die Freundschaft zwischen unseren Ländern zu sein und alle anderen Räder in unseren Staatsapparaten auf dieses Ziel hin anzustossen». Möge es noch viele solcher Räder auf dem Weg zu Freundschaft und Zusammenarbeit geben, denn wir sind offen für Kommunikation!
  In meiner letztjährigen Ansprache erwähnte ich einen deutschen Mediziner, Kurt Reuber, das Bild der «Stalingrad-Madonna», das er zeichnete, und die Worte «Licht, Leben, Liebe», die er darauf schrieb. Ein solcher Lichtstrahl, der durch die gegenwärtige Dunkelheit der Russophobie scheint, ein Tropfen auf den heissen Stein, war der Kongress der Internationalen Russophilen Bewegung, der vor etwa zwei Monaten in Moskau stattfand und Vertreter mehrerer Länder vereinte. Und wir, die Nationen der Welt, müssen endlich die Mittel und Wege finden, um dem Weltfriedensrat seinen verlorenen Status als führendes Leitungsorgan der internationalen Bewegung der Friedensverfechter zurückzugeben.
  Der Frieden kommt nicht von selbst, wir müssen dafür kämpfen!
  Ich bin davon überzeugt, dass die Volksdiplomatie ein enormes Potential hat, sowohl für die Verbesserung der globalen internationalen Situation als Ganzes als auch für die Stärkung der Freundschaft und des gegenseitigen Verständnisses zwischen den einzelnen Bewohnern der verschiedenen Länder. Eine friedliche Zukunft, Entwicklung und Wohlstand können nur durch die gemeinsamen Anstrengungen aller erreicht werden. Und dieser Weg ist der einzig mögliche Weg in einer grossen multipolaren Welt. Und dafür werden wir uns einsetzen!
  Ich wünsche dem Forum viel Glück und hoffe auf ein Wiedersehen. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!  •

(Übersetzung Zeit-Fragen)



Yury Starovatykh ist Vorsitzender der regionalen Zweigstelle der «Russischen Friedensstiftung» in Wolgograd, Ehrenbürger der Heldenstadt Wolgograd, Ehrenbürger von Hiroshima.

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