Leben nach dem Mass des Menschen

von Heinrich Wohlmeyer, Österreich*

Ein aufmerksamer Beobachter der weltweiten Zeitläufe droht in Resignation oder Wut zu verfallen, denn Angst bewirkt in der Regel zwei Reaktionen: das Resignieren oder die Flucht in die Gewalt. In jüngster Zeit verzeichnen wir auch die Flucht in die Event-Ekstase, in der man kurzfristig ein Scheinglück erlebt.
  Das Geschehen in den «modernen» Gesellschaften ist im individuellen Bereich gekennzeichnet durch zunehmende Depressionen und Burnouts als neue Massenkrankheiten, durch sich häufende, unerklärliche Gewalttaten – vor allem Jugendlicher – sowie von ekstatischen Massenevents mit Hunderttausenden jungen Menschen.
  Auch im geopolitischen Bereich reiht sich Aggression an Aggression. Wir verzeichnen derzeit 363 gewaltsame Konflikte, davon 27 erklärte Kriege. Das einzige Land der Erde, das in keinen Krieg verwickelt wurde, ist das kleine, demokratisch regierte Island.
  Es stellen sich vor allem folgende Fragen:

  • Liegt die Ursache vor allem im Unmass, in der asozialen Gigantomanie der globalisierten gesellschaftlichen Strukturen?
  • Wie kommen wir aus dem gegenwärtigen, die gesamte Welt gefährdenden Teufelskreis heraus?
  • Gibt es einen Massstab für ein gelungenes Leben der Individuen und Völker in dieser krisengeschüttelten Welt?

Kleinere soziale Einheiten

Mein 1994 verstorbener Freund, der Ökonom und Philosoph Leopold Kohr; sah die Lösung in der Reduktion der Grösse und der demokratischen Kontrollierbarkeit der sozialen Einheiten. Gemeinsam mit dem englischen Geschichtsphilosophen Arnold Toynbee stellte er fest, dass alle Grossreiche auf ihrem Zenit trotz riesiger Militär- und Verwaltungsapparate an ihrer Menschenferne zerbrochen sind.
  Gesellschaften nach dem Mass des Menschen seien daher das Desiderat unserer Zeit.
  Aber worin soll dieses Leben nach dem Mass des Menschen bestehen? Was sind die wesentlichen Stellglieder, die uns politisch, ökologisch, ökonomisch und sozial leiten sollen?
  Ich möchte sechs Bereiche vorschlagen, in denen wir die notwendende Kurskorrektur vollziehen und die wir in unsere Bildungssysteme einbringen müssen:

  • in der Beachtung unseres genetischen, kulturellen und sozialen Erbes,
  • in Beachtung der ökologischen Rahmenbedingungen,
  • in der Gestaltung und Anwendung der modernen Technologien,
  • in der Anpassung der ökonomischen Rahmenbedingungen,
  • in der Rückkehr zum traditionellen Völkerrecht,
  • in der spirituellen Ausrichtung unserer Aktivitäten.

Zur Beachtung des genetischen und kulturellen Erbes haben der Nobelpreisträger für Neurologie John Eccles und der Verhaltensbiologe Hans Zeier in ihrem Buch «Gehirn und Geist – Biologische Erkenntnisse über Vorgeschichte, Wesen und Zukunft des Menschen» die Warnung ausgesprochen: «Die Erde garantiert nicht unser Überleben unabhängig von unserem Verhalten.» Sie empfehlen daher die Beachtung unseres genetischen Erbes. Gemäss diesem sind wir auf überschaubare, sich selbst organisierende Gruppen von etwa 100 Menschen «programmiert».
  Dies hat man auch im militärischen Bereich wahrgenommen. Der römische Centurio war der Befehlshaber einer Hundertschaft, und die modernen Kompanien haben ebenfalls diese Grösse. Mahatma Ghandi hat diese Dimension in seinen «village-industries» angestrebt. 
  Eccles und Zeier empfehlen daher wörtlich: «Verzicht auf eine – nur noch kurzfristig effiziente – weitere Entflechtung der Funktionen in der Landwirtschaft und Industrie sowie die Wiederherstellung dezentralisierter, funktionell verflochtener, sozial befriedigender Kleingesellschaften mit überschaubaren Machtstrukturen und Kommunikationsnetzen; Erhaltung statt Zerstörung lokaler Kultur.»
  Sie betonen, dass die genetische Anpassung weit langsamer erfolgt als die rasante gegenwärtige kulturelle Veränderung und Gestaltung der sozialen Systeme. Ein rücksichtsvolles, menschengerechtes Anpassungstempo sei daher geboten.

Beachtung der Biosphäre
 und der modernen Technologien

Die ökologischen Rahmenbedingungen erfordern die Beachtung der Systemprinzipien der Biosphäre, nämlich

  • die solare Orientierung der Energiesysteme an die reichlich einstrahlende Sonnenenergie,
  • das Prinzip nicht mehr aus den biologischen Systemen zu entnehmen, als sie nachschaffen,
  • die kaskadische Nutzung von Energie und Materialien,
  • die Kreislaufführung der menschengemachten Stoffströme,
  • die Förderung der biologischen Vielfalt, um die Stabilität und Pufferfähigkeit der Systeme zu gewährleisten
  • und schliesslich die intelligente Dezentralisierung der Versorgungssysteme, um die vorstehenden Desiderate verwirklichen zu können.

Wir landen also beim «rechten Mass» von Leopold Kohr.
  Dies bringt uns zur Gestaltung und Anwendung der modernen Technologien:
  Diese sollen «angepasst», also nicht naturüberwindend, sondern synergistisch, sich wechselseitig fördernd, gestaltet und angewendet werden. Dies gilt vor allem auch für die Entwicklungen im Bereich der KI (Künstlichen Intelligenz). Diese können zu menschenverachtender, anonymisierter Kontrolle und Unterdrückung eingesetzt werden – zum Überstülpen «digitaler Notwendigkeiten», aber auch zur demokratischen Gestaltung der Gemeinwesen beitragen.
  Zur Bekämpfung der grassierenden «digitalen Ohnmacht» hat die Technische Universität Wien einen Unesco-Lehrstuhl für Digitalen Humanismus eingerichtet, auf dem die ethischen, sozialen und politischen Folgen digitaler Technologien erforscht werden.
  Die Anpassung der ökonomischen Rahmenbedingungen muss vor allem die Reform der derzeitigen Eigentums-, Finanz- und Handelsordnungen beinhalten.

Neue Wirtschafts- und Finanzordnung

Thomas Morus hat in seiner gesellschaftspolitischen Parabel Utopia nur anvertrauten, dem Gemeinwohl verpflichteten Besitz postuliert und unkontrolliertes Eigentum abgelehnt. Die moderne ESR (Economic Social Responsibility) und ESG (Economic Social Governance) sowie die ökologische und soziale Berichtspflicht für Unternehmen und Gemein-wesen können als Schritt in diese Richtung gesehen werden.
  Im Finanzbereich sollte die Geldschöpfung wieder zu den Gemeinwesen verlagert werden, um diese kostengünstig zu finanzieren und die anonyme Abhängigkeit zu vermeiden.
  Die friedenstiftende, demokratische Gestaltungsmacht sollte die verdeckten Finanz- und Ressourcenkriege ablösen. Die internationalen Institutionen sollten von Beherrschungsinstrumenten zu Förderungsinstitutionen umgewandelt werden. Ich habe dies in meinem Manifest, das in acht Sprachen vorliegt, näher erläutert.
  Die internationale Handelsordnung sollte die ökologischen und sozialen Abkommen als zwingend integrieren und vor allem das Bestimmungslandprinzip verwirklichen.
  Letzteres bedeutet, dass freier Import nur zulässig ist, wenn die Einhaltung der sozialen und ökologischen Standards des Bestimmungslandes bei der Erstellung des betroffenen Gutes oder Service nachgewiesen wird.

Rückkehr zum traditionellen Völkerrecht

Vor allem muss eine Abkehr von der «regelbasierten» internationalen Vasallen-Ordnung, die der Noch-Hegemon vorzugeben versucht, hin zum traditionellen Völkerrecht erfolgen.
  Dieses muss auch den kleinen Nationen wieder ein geachtetes, gleichberechtigtes und souveränes Mitwirken ermöglichen. Die beschworene «Menschheitsfamilie» muss aus gleichberechtigten Kindern mit gleicher Würde bestehen.
  Ich denke allerdings, dass das Movens zur Verwirklichung aller vorher angeführten Stellglieder die spirituelle Ausrichtung ist. Wenn diese fehlt, werden lügenhafte Scheinlösungen und Rechtfertigungen die individuelle und globale Szene beherrschen.
  Albert Camus, der selbst nicht an die Transzendenz glauben konnte, hat die Folge dieses Mangels wie folgt benannt: «Wenn transzendenter Trost fehlt, könnte man in Lethargie, in Amoralität oder auch Hedonismus verfallen […] In einer Welt, die jeden spirituellen Halt verloren zu haben scheint und in der alle herkömmlichen Sinnangebote als Täuschung entlarvt sind – wozu dann noch Engagement?!»
  Und dennoch hat er sich als Lebenssinn das Eintreten für Menschenwürde und Verständigung gegeben.
  Einer der brutalsten Politiker Frankreichs, George Clemenceau, hat in einer hellen Stunde den Satz geprägt: «Die wahre Revolution auf dieser Erde würde stattfinden, wenn sich die Menschen entschlössen, nach den Regeln der Bergpredigt Jesu zu leben.»
  Dass die sich abzeichnende multipolare Weltordnung von dieser Maxime geprägt sein möge – dafür bete und werbe ich.  •



Heinrich Wohlmeyer, geboren 1936 in St. Pölten; Gen. Dir. a.D.; Hon. Prof. Dipl. Ing agr. Dr. iur; Dipl. in Law, studierte in Wien Landwirtschaft und Rechtswissenschaften, beschäftigte sich als Fulbright-Stipendiat in den USA mit «Agricultural Economics and Business Administration» und promovierte in London über «Internationale Rohstofflenkungsabkommen». 20 Jahre in der Industrie, Regionalentwicklung und Handelspolitik tätig. Gute zehn Jahre war Wohlmeyer Forschungsmanager. Er lehrte an der Technischen Universität Wien und der Universität für Bodenkultur in Wien. Er befasste sich früh mit Nachhaltigkeitsfragen, Kreislaufwirtschaft und ökonomischen, ökologischen und sozialen Fehlentwicklungen. Verschiedene Auszeichnungen und zahlreiche Veröffentlichungen.

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