Nach 75 Jahren Nato – Mythen entlarven und den Sachen auf den Grund gehen

von Karl-Jürgen Müller

Rund um den 4. April 2024, dem Tag, an dem die Nato 75 Jahre alt geworden ist, hat es viele Analysen und Kommentare zur Geschichte und Gegenwart dieses von den USA geführten Militärbündnisses gegeben. Die Apologeten der Nato sangen Loblieder: Die Nato habe eine Erfolgsgeschichte, sie sei bis heute unverzichtbar für die Verteidigung der freien Welt. Im Detail gibt es aber auch Klagelieder: Was passiert mit der Nato, wenn Donald Trump der nächste US-Präsident wird? Was fehlt immer noch, damit die Nato-Staaten in den kommenden Jahren gegen die Feinde der Freiheit bestehen können?
  Aber auch die Kritiker nahmen kein Blatt vor den Mund. Am 8. April erschien ein neues Buch aus kritischer Sicht: «Die Nato. Eine Abrechnung mit dem Wertebündnis» ist der Titel, Sevim Dagdelen, früheres Fraktionsmitglied der Linken im Deutschen Bundestag, heute im «Bündnis Sarah Wagenknecht» (BSW), ist die Autorin.
  Indes muss man hinzufügen: Apologeten und Kritiker begegnen sich nicht auf Augenhöhe. Im Mainstream der Nato-Staaten haben fast nur noch die Apologeten Raum, die Kritiker sind – und waren es in den Nato-Staaten eigentlich schon immer – an den Rand gedrängt und auf kleinere Medien angewiesen – die zudem von staatlichen Zwangsmassnahmen bedroht sind. Und schon gar nicht gibt es einen Dialog zwischen den Apologeten und den Kritikern. Einen solchen Dialog wird es auf absehbare Zeit auch nicht geben. Die Nato-Staaten befinden sich in einem Propagandakrieg, der nicht weniger hart und unerbittlich geführt wird wie der eigentliche Krieg. Da gewinnen interessengeleitete Mythen die Oberhand, Geschichtsschreibung und politische Analyse mit dem Anspruch auf Annäherung an die Wahrheit sind derzeit nicht gefragt.

Es ist nicht auszuhalten

Zuerst wollte ich nichts zu 75 Jahren Nato schreiben. Das hat sich erst geändert, als ich einen Artikel von Dagmar Henn vom 1. April bei rt deutsch gelesen habe. Nach der Lektüre habe ich mich erneut gefragt, wie «frei» wir wirklich sind, wenn diese Autorin und dieses Medium in der ganzen EU tabu sind. Wenige Tage später musste ich lesen, was der Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am 4. April beim «Jubiläums»-Treffen der Aussenminister der Nato-Staaten in Brüssel zur Ukraine gesagt hat. Da habe ich es nicht mehr ausgehalten.
  Was schrieb Dagmar Henn? Wortstark verwies sie auf die Tatsache, dass sich die Regierungen der Ukraine und Russlands Ende März 2022 weitgehend auf eine vertragliche Vereinbarung zur Beendigung des Krieges geeinigt hatten, westliche Regierungen aber ihr Veto einlegten und die ukrainische Regierung unter Druck setzten, den Krieg – den Stellvertreterkrieg der Nato gegen Russland – fortzusetzen: vor allem mit Menschen aus der Ukraine und mit den Waffen der Nato-Staaten. Dafür mussten nicht nur russische Kriegsverbrechen in Butscha erfunden werden, dafür mussten seit Ende März 2022 Hunderttausende Ukrainer und Russen ihr Leben lassen.
  Jens Stoltenberg sagte zum «Jubiläum», im Ukraine-Krieg müsse künftig die Nato mehr Führung übernehmen. Man könne dies nicht den einzelnen Mitgliedsstaaten überlassen. Er sei gewillt, die Ukraine auch in den kommenden Jahren massiv mit Nato-Rüstung zu beliefern und den Krieg mit aktiver Nato-Beteiligung (aber bislang offiziell ohne Nato-Soldaten) auf jeden Fall und bis zum Sieg fortzusetzen. Mehr Nato-Kriegsbeteiligung, so Stoltenbergs rhetorische Formel, würde die Russen viel schneller in die Knie zwingen. Die Pressevertreter hatten von zusätzlichen Ausgaben in Höhe von 100 Milliarden Dollar für die kommenden Jahre erfahren. Stoltenberg wollte keine konkreten Zahlen nennen und verwies auf das Treffen der Staats- und Regierungschefs im Juli.
  Dagmar Henn hat also dargelegt, wie viele Opfer die Weigerung der Nato-Staaten, den Krieg schnell zu beenden, bislang gekostet hat. Und Jens Stoltenberg hat dargelegt, warum er den Krieg – mit noch mehr Opfern – weiter eskalieren will. Doch Krieg «bis zum letzten Ukrainer»? Stoltenbergs Mythos: Nur eine Eskalation des Krieges könne den Krieg schneller beenden.

Nato-Mythen

Die offizielle Nato-«Geschichtsschreibung» ist voller Mythen.
  Ein paar Beispiele:

  • Die Gründung der Nato 1949 sei eine defensive Reaktion auf eine nach Weltherrschaft strebende kommunistische Sowjetunion gewesen. So habe die Nato verhindert, dass die Sowjetunion nach der Sowjetisierung der nach dem Krieg von der Roten Armee besetzten Staaten Ost- und Mitteleuropas auch den Rest Europas in ihre Gewalt bringen konnte, und den Frieden in Europa gesichert. Dabei habe sich die Nato stets am Völkerrecht und an der Uno-Charta orientiert. Immer sei sie dem Schutz von Recht und Rechtsstaatlichkeit verpflichtet gewesen.
  • Nach dem Ende des Kalten Krieges hätten die Nato-Staaten den besten Willen gezeigt, eine friedliche und gerechte, nun alle Staaten der Welt erfassende «neue Weltordnung» zu schaffen. Allein der böse Wille anderer (Terroristen; die «Achse des Bösen», zu der Länder wie Nordkorea, Irak und Iran gehören sollten; Russland und China) sei dem im Weg gestanden. Nur deshalb habe man die Aufgaben der Nato schon bald nach 1991 in Richtung weltweiter Einsätze erweitert, den Begriff «Verteidigung» neu definiert («Die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland wird auch am Hindukusch verteidigt.») und sich an den Kriegen der USA beteiligt.
  • So sei zum Beispiel der Nato-Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien im Jahr 1999 eine «humanitäre Intervention» gewesen, habe einen weiteren Völkermord verhindert und das in mehrere Staaten zerfallende ehemalige Jugoslawien befrieden wollen.
  • Die Nato-Ost-Erweiterung habe vor allem dem Wunsch der ehemals zum Warschauer Pakt gehörenden Staaten und Völker Ost- und Mitteleuropas entsprochen, Schutz vor einem aggressiven Russland zu finden und endlich zum Westen dazuzugehören.
  • Im Ukraine-Krieg verteidige die Nato die Freiheit ganz Europas. Die Nato müsse auch deshalb alles unternehmen, um einen Sieg Russlands im Ukraine-Krieg zu verhindern. Sollte die Ukraine nämlich den Krieg verlieren, so würde Russland auch die anderen europäischen Staaten angreifen, um seine imperialen Pläne in die Tat umzusetzen.
  • Im weltweiten Kampf der Demokratien gegen die Autokratien der Welt stehe die Nato auf der Seite von Freiheit, Recht und Demokratie.

Sapere aude!

Alle diese Mythen sind bei unvoreingenommener Betrachtung und mit Blick auf die politischen und historischen Tatsachen und Zusammenhänge zu widerlegen und wurden auch schon gründlich widerlegt, auch in dieser Zeitung. Aber diese Widerlegungen finden fast gar keinen Zugang zu den Mainstream-Medien in den Nato-Staaten – statt dessen werden die Mythen gepflegt und gehegt und tagtäglich in den verschiedensten Formen wiedergekäut – zumeist untermalt mit nicht überprüfbaren Gruselgeschichten über die «anderen».
  «Sapere aude! Habe Mut, Dich Deines eigenen Verstandes zu bedienen!», schrieb Immanuel Kant vor mehr als 200 Jahren. Dieser Appell hat nichts an Aktualität verloren. Notwendig ist entschlossener Widerspruch, wenn die Grundlage eines konstruktiven menschlichen Zusammenlebens, nämlich Redlichkeit im Miteinander, Treu und Glauben im öffentlichen Leben, gänzlich verlorenzugehen droht. Heute, wo die Bürger der Nato-Staaten erneut in einen grossen Krieg mit einem die Menschheit bedrohenden Eskalationspotential getrieben werden sollen, ist es überlebenswichtig geworden, die gefährlichen Nato-Mythen zu entlarven und den Sachen auf den Grund zu gehen.  

75 Jahre Nato: von einem Krieg zum nächsten

von Manlio Dinucci, Italien

Während sich die Nato in Brüssel versammelte, um ihr 75jähriges Bestehen zu feiern und weitere Militärhilfe für die Ukraine zu beschliessen, hatte Kiew Mühe, die Kriegsanstrengungen der Nato gegen Russland noch mitzutragen. Daher greift es zunehmend auf Terroranschläge innerhalb Russlands zurück.
  Der russische Föderale Sicherheitsdienst (FSB) hat eine Gruppe von Terroristen verhaftet, die hochexplosiven Sprengstoff transportierten, der an ein Endziel in Moskau geliefert werden sollte. An Bord ihres Nutzfahrzeugs – es wurde am Kontrollpunkt Ubylinka an der russisch-lettischen Grenze in der Region Pskow (Westrussland) abgefangen – wurde unter anderem eine Ladung von 27 ukrainisch gefertigten orthodoxen Ikonen mit Sprengstoff entdeckt. Diese und andere Sprengsätze befanden sich an Bord eines Fahrzeugs, das sechs Nato-Länder durchquert hatte: Rumänien, Ungarn, die Slowakei, Polen, Litauen und Lettland auf dem Weg von der Ukraine nach Russland. Der Plan lag auf der Hand: In Russland angekommen, sollten orthodoxe Ikonen von Kirchen, Gemeinden und gläubigen Familien gekauft werden. Nach einer bestimmten Zeit sollten die Ikonen mit Fernbedienungen gesprengt werden, um während eines religiösen Feiertags, an dem die Gläubigen in Kirchen und Familien zusammenkommen, möglichst viele Opfer zu fordern.
  Gleichzeitig werden die Ermittlungen zu dem Terroranschlag vom 3. April in Moskau fortgesetzt, der bisher 144 Todesopfer gefordert hat, eine Zahl, die sich noch erhöhen könnte, da über 500 Menschen verletzt wurden. Die Entscheidung, Konzertbesucher anzugreifen, ist Teil eines terroristischen Plans, der darauf abzielt, die russische Zivilbevölkerung ins Chaos zu stürzen und Misstrauen gegenüber der Regierung zu schüren. Dem Plan zufolge sollte dem Massaker an den Konzertbesuchern die Tötung der orthodoxen Gläubigen mit den explosiven Ikonen folgen.
  Es sollte nicht überraschen, dass militante ISIS-Exekutoren für diese terroristischen Aktionen eingesetzt werden. Der Mainstream der politischen Medien versucht, die Tatsache zu vertuschen, dass Kiew seit Jahren mit dieser terroristischen Bewegung zusammenarbeitet, die von den Vereinigten Staaten und der Nato finanziert und bewaffnet wird, um Syrien von innen heraus zu zerstören. Zwei Artikel desselben Mainstreams zeugen davon. Am 10. Juli 2015 titelte die italienische Tageszeitung «Il Giornale» unter Berufung auf eine Untersuchung der «New York Times» wie folgt: «Isis-Truppen an der Seite der Ukraine gegen russische Separatisten». Am 21. November 2019 titelte die britische Zeitung «The Independent» wie folgt: «Wie die Ukraine zur unwahrscheinlichen Heimat von ISIS-Führern wurde, die aus dem Kalifat flohen».
  Der Terrorplan ist Teil der Strategie der Nato, in der auch Isis-Kämpfer eingesetzt werden. In 75 Jahren hat sich die Nato vom Kalten Krieg zu den Kriegen nach dem Kalten Krieg und mit dem Putsch in der Ukraine 2014 zum offenen Krieg gegen Russland entwickelt.  •

Quelle: https://www.perunmondosenzaguerre.eu/2024/04/06/75-anni-della-nato-di-guerra-in-guerra-20240405-pangea-grandangolo/

(Übersetzung Zeit-Fragen)

Offener Brief an die Bundesregierung und den Bundestag

zf. Der folgende offene Brief vom 9. April 2024 wurde von Kreistagsabgeordneten fast aller Parteien des Kreistages im Landkreis Uckermark (Bundesland Brandenburg) unterzeichnet. Ausnahme waren die Abgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen. Ein Landkreis ist in Deutschland die regionale politische Einheit oberhalb der Städte und Gemeinden.

Sehr geehrter Herr Bundeskanzler Olaf Scholz,
sehr geehrte Frau Bundestagspräsidentin Bärbel Bas

Wir wenden uns an Sie in tiefer Sorge vor einer weiteren Eskalation des Krieges und mit der Erwartung, anstelle weiterer Waffenlieferungen Verantwortung für eine friedliche Lösung zu übernehmen.
  Den völkerrechtswidrigen Überfall Russlands auf die Ukraine und den daraus resultierenden Krieg verurteilen wir auf das schärfste.
  Wir sind solidarisch mit dem ukrainischen Volk, das seit nunmehr zwei Jahren unter den katastrophalen Folgen dieses Krieges leidet.
  Das Völkerrecht gilt uneingeschränkt für alle Staaten und Menschen. Waffenlieferungen lösen keine Konflikte und sind insbesondere mit Blick auf die deutsche Geschichte moralisch nicht vertretbar. Deshalb sind wir gegen Versuche, Konflikte mit militärischen Mitteln zu lösen. Wir fordern eine Rückkehr zum Verzicht Deutschlands, Waffen in Kriegs- und Krisengebiete zu liefern.
  Deutschland sollte nichts unversucht lassen, um diplomatische Lösungen für ein Ende des Krieges zu initiieren und das friedliche Miteinander der Völker zu fördern.
  Mit grosser Sorge beobachten wir den Ausbau der Rüstungsindustrie und eine in der Öffentlichkeit immer stärker und scheinbar bedenkenlos genutzte Kriegsrhetorik. Anstelle militärischer Unterstützung sollte Deutschland alles dafür tun, um der Ukraine jedwede humanitäre Hilfe zukommen zu lassen.
  Krieg kennt nur Verlierer. Statt der Dominanz des Militärs brauchen wir die Sprache der Diplomatie und des Friedens.
  In Anlehnung an die Präambel des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland sind wir, die Unterzeichner dieses Schreibens, uns unserer Verantwortung bewusst und sehen die Uckermark fest in einem vereinten Europa verankert, beseelt von dem Willen, dem Frieden zu dienen.

Mit freundlichen Grüssen

Christian Bork, Heike Heise-Heiland, Anne-Frieda Reinke, Andreas Büttner, Jens Koeppen, Achim Rensch, Knut Büttner-Janner, Mirko Koschel, Siegfried Schön, Frank Düpre, Walter Kotzian, Tobias Schween, Harald Engler, Axel Krumrey, Walter Seehagen, Burkhard Fleischmann, Dietmar Meier, Dr. Wolfgang Seyfried, Dr. Alexander Genschow, Josef Menke, Günter Tattenberg, Hannes Gnauck, Andreas Meyer, David Weide, Monty Gutzmann, Thomas Neumann, Evelin Wenzel, Torsten Hagenow, Gerd Regler, Christine Wernicke, Wolfgang Banditt (Kreistagsvorsitzender), Karina Dörk (Landrätin)

Quelle: Internationale Friedensfabrik Warnfried ;
https://www.internationale-friedensfabrik-wanfried.org/post/kommunalpolitiker-fordern-aus-sorge-vor-einer-eskalation-von-den-bundespolitikern-anstelle-weiterer-1 vom 8.4.2024

«Rein defensive Absichten»

«Im Frühsommer 1988 flog die Arbeitsgruppe Verteidigung der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zu einem Arbeitsbesuch nach Washington. […] Die Fahrt ging direkt ins Hauptquartier der CIA nach Langley. Erstaunt hörten wir dort den Ausführungen zu, die eine völlig neue amerikanische Politik gegenüber der Sowjetunion zum Thema hatten: Wir sollten uns lösen […] von dem, was wir seit Jahrzehnten über militärische Potentiale und Strategien in der Auseinandersetzung zwischen Ost und West in Europa gehört hatten. Die Ergebnisse einer Studie zu diesem Thema sei eindeutig: Die Sowjetunion verfolge rein defensive Absichten.»

Willy Wimmer,
1988–1992 Staatssekretär im deutschen Verteidigungsministerium,
 in seinem 2016 erschienenen Buch
 «Die Akte Moskau», S. 11f.

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